

Pasta! Meer braucht man nicht - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
30.05.25 - Hier ist ja was los! Hinter mir, vor mir, neben mir – überall Autos mit Fuldaer Kennzeichen. Hängen wir etwa noch auf der Petersberger Straße fest, ist denn schon wieder Rush Hour? Aber nicht doch: da vorne wartet ja schon die Schweizer Grenze. Hätten wir doch eigentlich wissen müssen: Wohin man auch fährt, irgendwelche Fuldaer sind schon da. Besonders im Süden, wo sich der Osthesse gerne mal ein bisschen aufwärmt. Überall FD, als wäre man gar nicht weg. Vor allem jetzt, in der Hochsaison für Senioren und andere kinderlose Touristen. Nach uns, in der wirklichen Hauptsaison, die Sintflut – die hohen Preise, die hohen Temperaturen, die überfüllten Strände. Ach, Mittelmeer, du kannst so schön sein. Also nichts wie weg und nichts wie hin. Auf nach Italien! Ran an die Pasta!
Wenn die Sonne sich im Meer ertränkt, dann versinkt die deutsche Seele gleich mit. Bestimmt auch die von Angela Merkel, die es immer wieder auf die Insel Capri zieht, auch in diesem Frühjahr war sie schon dort (und kam, wie uns die BILD-Zeitung enthüllt hat, mit von der Sonne rotgebackenem Teint zurück). Ja, aufpassen muss man schon, das haben Millionen Westdeutsche vor 70 Jahren bereits schmerzhaft gelernt. Capri, das war eines dieser Traumziele; alle wollten mal gucken, wie das ist, "wenn die rote Sonne im Meer versinkt". Und mitgesungen haben sie, und gerührt waren sie. Dabei hat uns Heinrich Heine doch schon über hundert Jahre früher beigebracht, dass die Urlaubssonne so viel Gefühl gar nicht verdient:
Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang.
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
Mein Fräulein! Sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.
50er Jahre in Deutschland. Ein Volk rappelt sich wieder hoch. Die Germanen wollen das Leben erleben! Am 8. Mai 1952 wird der Heiermann geboren – so nannten sie die 5-Mark-Münze. Dafür gab’s damals 5.000 Lire. Die Girls tragen Petticoats, die Männer supercoole Nyltes-Hemden (die mit den Schwitzflecken). Und Deutschland motorisiert sich: mit dem VW-Käfer, dem Opel Kapitän, der Isabella von Borgward, dem NSU-Prinz, dem Goggomobil. Und mit dem lustigsten Auto von allen, der Isetta. Schnucklig, rundlich, zum Einsteigen klappte die gesamte Vorderseite nach links. Das Lenkrad klebte an der Einstiegsluke. Spitzname: Macht hoch die Tür. 1957 sah sich die Politik genötigt, in den Städten Tempo 50 einzuführen. Ein "Bundesurlaubsgesetz", mit 18 Tagen Mindesturlaub, gab’s zwar erst ab 1963 – aber wenn jetzt schon mal so viele Autos da waren, konnte man ja auch vorher los. Über den Brennerpass, durch den Gotthard-Tunnel – und übers Frankfurter Kreuz. Dort registrierte die Polizei im Sommer ´63 den ersten in Deutschland gemessenen Monster-Stau: 33 Kilometer langer Stillstand.
1956 sang Caterina Valente: "Komm ein bisschen mit nach Italien". Viereinhalb Millionen Deutsche machten sich Mitte des Jahrzehnts auf den Weg, mit dem Auto oder im "Touropa-Express". "Sonne statt Regen, Dolce Vita statt Maloche, Rimini statt Bottrop", titelte der Stern. Die TV-Sendung "Der 7. Sinn" ermahnte die Autofahrer: "Lassen Sie Ihre Kinder nicht an der Tankstelle stehen." Ob die Italiener ahnten, was da auf sie zukam? "Buntes Hemd, weiße Socken in Sandalen, Sonnenbrand auf den Waden" – so beschrieb Ulla Kock am Brink den germanischen Urlauber. Noch 1972 schauderte es den Kölner Soziologen Erwin K. Scheuch angesichts der touristischen Invasoren. Im Urlaub, schrieb er, "werden Menschen noch umfassender freigesetzt als an den zweitägigen Wochenenden, und hier zeigen sich dann noch ungewöhnlichere, teilweise sogar bizarre, Verhaltensweisen." "Das Benehmen macht Ferien", titelte die feinsinnige FAZ. Aus Sorge um das Ansehen der Bundesrepublik engagierte das Reiseunternehmen Scharnow die Legationsrätin Erica Pappritz, um den Reiseleitern "Ratschläge für ein angemessenes Auftreten in fremden Ländern" zu geben. "Die Pappritz" war nicht zimperlich. "Damen, die auf der Straße rauchen, sind entweder keine – oder Amerikanerinnen", pflegte sie zu sagen, und hatte für das deutsche Ferien-Outfit nur Verachtung: "Wer sich wie eine Schlampe oder ein Penner kleidet, der muss sich auch so betrachten lassen."
Rimini! Riccione! Lido di Jesolo! Da wollten fast alle hin, an diese kilometerlangen gefegten Sandstrände der Adria. Schnurgerade zogen sich die Liegestuhl-Batterien das Meer entlang, am Teutonengrill waren Sauberkeit und Ordnung oberstes Gesetz. Kaum hatten sich die italienischen Gastgeber an die Deutschen gewöhnt, da zog die Karawane plötzlich weiter – Rimini war auf einmal spießig, "Malle" hieß das neue Zauberziel. "Saubere Zimmer, reichliche Hauptmahlzeiten, eifrige Bedienungen": so lockte Neckermann die Germanen bereits 1963 auf die spanische Insel, zwei Wochen für 336 Mark; Flug inklusive. Rimini hat den Exodus überlebt. Heute beherrschen die Italiener ihre schöne Stadt am Meer selbst. Tagsüber Wellness-Urlaub, abends und nachts Ramba-Zamba am Strand. Studenten und andere Feierwütige rutschen in weniger als einer Stunde mit dem Zug von Bologna nach Rimini. Aber halt – es gibt sie noch, die deutschen Adria-Touristen. Vor allem im "Union Lido", einem der größten Campingplätze Europas, zwischen Jesolo und Venedig. Eine Zelt- und Wohnwagen-Stadt, fast komplett in deutscher Hand. Eine Million Gäste pro Jahr. In einer ZDF-Reportage erzählt ein deutscher Jung-Unternehmer: "Durch die Pizza und das Eis merkt man schon, dass man in Italien ist." Und ein Dauercamper schwärmt: "Sieht aus wie zu Hause." Das ist der Teig, aus dem Urlaubs-Träume gebacken werden. Viva Italia!
Meine Mutter war nie in Italien, aber sie hätte so gern mal Alassio erlebt. In ihrer Zeitung "Heim und Welt" wurde ihr das Städtchen in Ligurien als Traumwelt nahegebracht, ein kleines Paradies des Dolce Vita. Zarah Leander war schon dort, Jean Cocteau, Anita Ekberg, Woody Allen, Sophia Loren, Adriano Celentano... Irgendwann hatte ein einheimischer Künstler die Idee mit den Kacheln. Ernest Hemingway war der erste, der sich bequatschen ließ, ein Bild von sich und seine Unterschrift auf eine Kachel brennen zu lassen. Die Kachel wurde an ein Mäuerchen geklebt, "Il Muretto", und plötzlich wollten sämtliche Promis ihre eigene Tontafel haben. Heute ist die Kachelwand überfüllt, inzwischen gibt es sogar eine Wand für Hunde...
Ich sitze und gucke. Im Rücken die Berge, vor mir ein Negroni und das Mittelmeer, glitzernd und bewegungslos wie ein gewaltiges Öl-Bad. Wo sind all die Wellen hin? Mir fällt ein, was die Italiener an uns lustig finden: dass wir Bier dem Wein vorziehen. Dass wir bereits um 18 Uhr, wenn die Straßenlaternen noch dunkel sind, zu Abend essen. Dass wir Cappuccino zur Pizza trinken. Und dass wir immerzu im Meer schwimmen müssen. Sogar schon im April, wenn das Wasser noch keine 20 Grad hat. Vor ein paar Jahren bin ich genau hier in eine Horde Feuerquallen gekrault. Die Italiener haben dieser Wasser-Bestie den gefährlich-schönen Namen Medusa gegeben. Was für herrliche Geschöpfe, habe ich noch gedacht – und WUSCH zogen sie mir ihre Tentakel rüber, dass es nur so brannte. Noch Monate später sah mein Rücken aus wie nach einer Auspeitschung. Tja, dieses Land weiß sich zu wehren, wenn wir ihm zu aufdringlich werden. Aber wir lernen ja und die meisten von uns können inzwischen sogar brav "Buongiorno" und "Grazie" sagen und latschen nicht mehr in Badesachen durch die Fußgängerzonen. Dürfen wir uns also willkommen fühlen?
Ich versuche, die widerspenstigen Spaghettoni in Käsesauce zu zähmen. Irgendwer hat sogar frische Trüffeln drüber geraspelt. Ach ja, Nudeln machen glücklich. Basta! Nudeln haben aber auch schon unser Armseligstes zum Vorschein gebracht. Angst vorm Fremdartigen, Verachtung; den Hochmut der Kartoffeln-Nation gegenüber den Südländern. Eine ganz normale Beziehungskiste halt. Wollen wir sie mal öffnen?
Noch in den sechziger Jahren warnte der Baedeker vor den Spaghetti. Wie vertilgt man diese spindeldürren Dinger, ohne sich zum Gespött zu machen? "Niemals mit dem Messer angreifen", riet der Reiseführer. Heute macht die Italo-Nudel nördlich der Alpen der Kartoffel den Rang als Sättigungsbeilage streitig. Der Germane dreht die Pasta mit der Gabel auf dem Löffel zu mundfertigen Nestern und fühlt sich wie ein Italiener. Der hingegen überwältigt seine Teigwaren auch ohne Löffel. Die Nudel-Nation hat ja auch schon ein paar hundert Jahre geübt. Der Hartweizen, Grundstoff für die Pasta, wurde im 9. Jahrhundert von den arabischen Eroberern Siziliens importiert. Noch im Hochmittelalter verspotteten die Neapolitaner die südlichen Landsleute als "Makkaronifresser", erhoben die Hohlnudeln aber wenig später selbst zu ihrer Leibspeise. Auch die Deutschen wurden viel früher zu Nudel-Verputzern, als viele von uns gedacht haben. In einem Kochbuch von 1791 etwa findet sich ein Rezept für "Italiänische Nudeln oder Maccaroni". Die Nudeln sollten damals noch eine Stunde lang weichgekocht werden, um danach "mit geriebenem Parmesan-Käß" die richtige Würze zu erlangen. Andererseits schrieb ein entsetzter Neapel-Besucher 1837: "Es ist unglaublich, auf welch eine unanständige Art diese Maccaroni gegessen werden... Der echte Neapolitaner wikkelt sich dies mehr als ellenlange Gewürm um seine Gabel, neigt den Kopf über den Teller, füllt den Mund mit dem einen Ende der Maccaroni und zieht das übrige, ohne Hülfe der Gabel, immer nach..." Mancher Einheimische, beobachtete der Gast aus dem Norden, würde sogar mit den Fingern essen!
Während frühe Feinschmecker Italien längst ins Herz geschlossen hatten, hielt die unwissende Masse der Deutschen das Land im fernen Süden für nackte Barbarei. Bei Reisen dorthin würde man "schlecht essen und die Gesundheit aufs Spiel setzen". Schlecht riechen würde man obendrein, wegen des Knoblauchs. Heute freilich ist die mediterrane Kost der Hit der gesunden Ernährungslehre. Und manche Deutsche wollen italienischer sein als die Italiener. Vielleicht nennt man uns sogar "buona forchetta", gute Gabel. Was das bedeutet? Je nachdem. Gourmet oder Schlemmer. Oder Fress-Sack. Das wäre doch für einen Fuldaer ein echter Ritterschlag, oder?
"Guck dir das an", sagt die Frau auf meinem Beifahrersitz. Hab’s schon gesehen: FD. Wir sind doch nicht tausend Kilometer weit gefahren, um auch in der Fremde dem Fuldaer Akkusativ ausgesetzt zu werden. Aber es gibt halt Osthessen, die sind hier beinahe einheimisch. Die haben schon im vergangenen Jahrhundert ein Apartment am Meer, ein stilechtes Häuschen in einem verwunschenen Bergdorf oder gleich eine komplette Olivenöl-Plantage gekauft. Der Fuldaer Menschenschlag kommt halt rum auf der Welt und ist echt schlau. Wir ebenfalls, wir bleiben noch ein wenig. Nutzen die leeren Strände und Wanderwege und erfreuen uns an den Regen-Nachrichten von daheim. Aber sobald die Küsten-Idylle in ein Urlaubs-Inferno verwandelt wird, sind wir wieder zurück und genießen die Sommerferien-Ruhe. Ach, Mensch: Fulda ist ja auch Tourismus-Hotspot. Da treffen wir sie vielleicht wieder, unsere Italiener. Die werden sich wundern, was es bei uns alles zu essen gibt. Sogar echte deutsche Küche! (Rainer M. Gefeller) +++
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